
Sind Blogger ehrlich? Oder: Die Inszenierung der Wirklichkeit
„Produkt xyz ist unglaublich toll!“
„So sieht mein Wohnzimmer aus:“
[es folgt ein Foto wie aus dem Möbelhauskatalog, perfekt aufgeräumt]
Zu Aussagen wie diesen fallen dir sicher auch gleich etliche Beispiele ein – ich stolpere in der Blogosphäre andauernd darüber. Aber wie echt ist das? Wie ehrlich sind Blogger?
Wo verläuft die Grenze zwischen „Schokoladenseite zeigen“ und „Inszenierung“? Auch wenn „authentisch“ das Modewort schlechthin in der Blogosphäre ist – bis wohin sind wir denn noch wir selbst? Ab wann zeigen wir (wenn auch vielleicht unterbewusst) nur noch genau das, was gerade im Trend liegt, was so ähnlich alle posten, was Likes verspricht? Und wann beginnt das Lügen?
Die Inszenierung des perfekten Lebens
Egal ob Lifestyle-, Fashion-, Interior-, Food-, Privat- oder Was-auch-immer-Blog: in die meisten Blogs fließt verdammt viel Persönliches ein.
Allein schon die Fotos – Selfies und Outfit-Shots, Bilder von den frisch lackierten Fingernägeln, von den letzten Einkäufen Hauls und der Wohnungseinrichtung, von apart angerichteten Snacks und Getränken, und und und.
Wir zeigen so viel aus unserem Alltag, dass gut und gerne der Eindruck entstehen kann, das sei unser ganzes Leben.
Leben wie Gott im Bloggerland
Und das wäre ja auch ein schönes Leben, gell?
Der Blickfang in unserer Küche wäre ein leuchtend bunter, mit lauter exotischen Früchten gefüllter Obstkorb – und nicht der Abwasch, der sich auf der anderen Seite fast einen halben Meter hoch auftürmt.
Unser Kaffee wäre immer mit einem süßen kleinen Herzchen auf dem Milchschaum verziert und nicht die lauwarme dünne Plörre, die aus dem Automaten kommt.
Wir würden den ganzen Tag lang wahlweise Sport treiben (natürlich in der lächelnden Victory-Zeichen-Version, nicht mit knallrotem Gesicht nach Luft japsend), shoppen gehen (in den teuersten Läden – schließlich sind wir Blogger, schließlich sind wir reich!) oder uns lässig-elegant auf dem Sofa drapieren, mit einem kunstvoll verzierten kleinen Cupcake und einem Smoothie und neben uns immer einen frischen Blumenstrauß.
Mensch, was müssten wir glücklich sein!
Einen Filter auf die Wirklichkeit
Na klar – natürlich ist das nicht das ganze Leben. Nur ein kleiner, wohldosierter Ausschnitt. Ein perfekter Ausschnitt.
Wir zeigen nur das Repräsentative, das Angesagte. So spontan Selfies ja auch sein mögen, die Zeit zum Wegretuschieren von Augenrändern und Pickel muss schon sein. Hundehaare auf dem Sofakissen sind jetzt irgendwie nicht so schick, ebenso wenig wie das Nutellabrot, was man sich morgens halt eigentlich immer auf die Schnelle schmiert. Das wird besser nicht verbloggt. Aber wenn man sich dann irgendwann endlich mal das supergesunde Chia-Samen-Müsli mit frischem Obst und einem Klacks laktosefreien Joghurt gemacht hat – Welt, krieg das verdammt nochmal mit!
Die Qualität der Blogfotos ist dabei in den allermeisten Fällen gut bis sehr gut; knackescharf, ein ansprechender Bildaufbau, ausreichende Beleuchtung bis hin zur leichten Überbelichtung, und für das gewisse i-Tüpfelchen gibt’s mit Slumber, Earlybird und Co. ja noch die Wundertüte der Instagram-Filter.
Unterbelichtete, verwackelte Fotos sind zu einer seltenen Ausnahme geworden. Zum Glück, eigentlich. Wer will so eine Pixelgrütze schon sehen?
Die Kehrseite der Medaille: mit jedem neuen perfekten Foto, das wir an die Wände der Welt posten, kaschieren wir die Wirklichkeit wieder einen Deut mehr. Je häufiger wir die Perfektion zum Alltäglichen deklarieren, desto größer wird die Diskrepanz zwischen dem, was ist, und dem, wie es vermeintlich nur sein darf.
Wenn es in unserem Leben nicht so glamourös und clean aussieht wie bei den ganzen anderen Bloggern und Instagrammern, dann legen wir doch einfach noch einen Filter drüber und noch einen und… puh, geschafft. Es sieht gut aus!
Früher war alles… schlechter?
Ich weiß nicht, ob es an meiner Wahrnehmung liegt oder ob sich die Blogosphäre tatsächlich so gewandelt hat: als ich vor rund zehn Jahren die ersten Blogs kennenlernte (die damals noch gar nicht so hießen, wir nannten das einfach Homepage oder Seite), wurde über ganz andere Themen geschrieben.
Es war deutlich privater als heute und deswegen oft auch deutlich banaler, oft aber auch mit einem größeren Seelenstriptease verbunden. Ich habe damals viele Blogs verfolgt, in denen offen über Essstörungen geschrieben wurde, über Depressionen, Therapie oder auch einfach das ganz normale Auf und Ab des Alltags.
Die allermeisten dieser Blogs gibt es nicht mehr, oder sie haben sich stark verändert.
Achtsamkeit, Baby!
Heute wird fast nur Positives gepostet. Über die Highlights unseres Lebens – schöne Ausflüge, leckeres Essen, perfekt organisierte Terminkalender. Und natürlich massenhaft Artikel darüber, wie man besser bastelt, schminkt, verreist, fotografiert, kocht, bio kauft, bloggt, aufs Klo geht. Denn wir denken ja schließlich immer an den berühmten Mehrwert für den Leser!
Das Perfide ist: auf den ersten Blick ist das ja eine tolle Entwicklung. Anstatt unzufrieden herumzumosern und mit unseren Problemchen nach medialer Aufmerksamkeit zu schreien, fokussieren wir uns auf die positiven Seiten des Lebens, leben ganz furchtbar gesund und achtsam und öko, halten alles Schöne und Wunderbare fest und abonnieren haufenweise Blogs, die uns Tipps geben, wie wir noch besser werden können.
Das alles ist großartig, keine Frage. Wer freut sich nicht, wenn ein Foto auf Instagram mit Dutzenden von Herzchen belohnt wird? Wer stöbert nicht gerne auf Pinterest herum, um sich inspirieren zu lassen?
Aber: wir setzen uns dadurch selber wahnsinnig unter Druck.
Alle sind perfekt. Und ich?
Es entsteht verdammt schnell der Eindruck, dass alle anderen so viel besser sein müssen als man selber.
Denn dass die Aufnahmen in Zeitschriften bis zur letzten Teppichfranse durchgestylt sind – keine Frage.
Aber wenn es anscheinend bei allen Bloggern, diesen ganz normalen Menschen von nebenan, mindestens ebenso perfekt aussieht?! Da bekommen die eigenen vier Wände schnell Minderwertigkeitskomplexe.
Und schon fotografieren wir bloß die Ecken, die so aussehen wie bei allen – die iMac-Tastatur von oben, das Ikea-Regal mit dem Ikea-Kunstgestrüpp in dem Ikea-Metallübertopf, den gefühlt jeder hat. Ja, ich auch. Steht in der Küche. Auf dem Ikea-Sideboard.
Tja. Nur die Schokoladenseiten zeigen: ist das unehrlich?
Die gleiche Individualität für jeden
Alle Welt schreit nach Individualität. Kein Wunder, dass gerade wir Blogger wie verrückt upcyclen und Outfits zusammenstellen und selber backen und haste nich gesehn. Aber… was kommt dabei heraus? Jeder ist auf die gleiche Weise individuell.
Auf … what Ina loves stellt Ina regelmäßig neue Blogs vor. Dabei zeigt sie jeweils drei Fotos aus den jeweiligen Blogs… und ganz ehrlich, in 90% der Fälle sind die alle austauschbar. Der gleiche Stil, die gleichen Farben, Macarons und Fotofilter allenthalben.
Was für Blogs gilt, trifft natürlich auch auf Instagram zu. Tara-Louise von fashionlunch hat vor einigen Wochen unter dem Titel Individualität, wo bist du? einen interessanten Artikel über dieses Phänomen veröffentlicht, mit einer Collage, die Bände spricht.
Und natürlich darf an dieser Stelle auch nicht der Verweis zu dem wunderbaren Essay Wie Instagram uns alle zu Psychopathen macht fehlen, der vor einiger Zeit auf welt.de erschien.
Tja. Was ist da los? Gerade wir Blogger rühmen uns doch so sehr unserer Authentizität und Kreativität, der Individualität und der Ideen.
Warum ist dann doch alles so gleich? Sind wir so austauschbar, dass wir tatsächlich alle die selben Dinge mögen? Sind so leicht von Trends zu beeinflussen, zu manipulieren?
Oder posten wir nur das, von dem wir uns Klicks und Likes versprechen? Das, wofür wir uns bezahlen lassen?
Von Ehrlichkeit und Verantwortung
Wie ehrlich sind wir als Blogger – zu unseren Lesern, und gegenüber uns selbst?
Bewusst lügen tun wohl die wenigsten von uns (auch wenn es immer wieder schwarze Schafe gibt, die Werbung nicht als solche kennzeichnen und dreist behaupten, „rein zufällig“ über Shop xyz gestolpert zu sein… blöd nur, wenn zig andere Blogger ein paar Tage vorher von ebenjenem Shop die gleiche Anfrage bekommen haben, ob man denn nicht eine Kooperation eingehen wolle, ohne das gleich so offensichtlich als Werbung zu kennzeichnen – netter Versuch…).
Aber auch ohne direkt zu lügen, können wir die Wahrheit verfälschen. Können ein falsches Bild von uns selbst generieren, von unserem Alltag. Und wenn das zehn von uns auf ihren Blogs tun, zwanzig, Hunderte – dann verändern wir die Rezeption dessen, was als „normal“ gilt.
Die Macht der Medien wird nicht ohne Grund auch als publikative Gewalt bezeichnet, als vierte Macht neben Exekutive, Legislative und Judikative. Wir Blogger sind ein Teil dieser Medienlandschaft. Mit jedem Artikel, jedem Tweet gestalten wir sie mit. Das bedeutet: wir haben verflucht nochmal Verantwortung!
Was ist das, was wir da auf unseren Blogs zeigen wollen, zeigen können? Die inszenierte Quintessenz dessen, wie wir gerne wären. Ja, aber wie wollen wir denn eigentlich sein? Was macht uns aus? Primark und Ikea, Cakepops und Nagellack? Was ist Individualität – die Zusammenstellung des Kaffees bei Starbucks?
Wir sind doch so verdammt viel mehr!
Steh dazu. Zeig es.
Oder frei nach Pippi Langstrumpf: poste frech und wild und wunderbar!